Donnerstag, 20. Dezember 2007

Hans Witteborg

Seelen-Einblick

Nein, es ist nicht so, dass ich die Menschen nicht liebe. Aber einige und nicht wenige dieser Spezies, die sich selbst als die Krone der Schöpfung bezeichnet, sind von derartiger Niedertracht, dass einem die Galle sichtbar gelb überläuft.

Vielleicht kennt ihr diese kleine Geschichte:

Ein armer Bauer lebt mit seinem Nachbarn, der ein ebenso bedauernswerter Schlucker ist, in ständiger Zwietracht. Eines Tages besucht eine Wunschfee unsern mürrischen Agrarier und bittet ihn, einen Herzenswunsch zu äussern, für dessen Erfüllung sie Sorge zu tragen verspricht. Die Erfüllung dieses Wunsches ist allerdings an eine Bedingung geknüpft: sein Nachbar erhalte danach das Doppelte von dem, was er selbst begehre.

Unser Kandidat zögert einen kurzen Augenblick, dann antwortet er unter hämischem Grinsen: „ So nimm mir eines meiner Augen!“

Gewiss, es ist nur ein Märchen, aber der es erfunden hat, kannte sich gut aus in den tiefsten Niederungen der menschlichen Seele. Derartige Hinterhältigkeiten sind bei unseren Mitgeschöpfen, den Tieren, nicht zu erwarten. Ein Grund, weshalb ich sie ohne Ausnahme liebe.

Manche Leute behaupten, Tiere seien ausschliesslich Instinkt gesteuert, könnten keine eigenen Entscheidungen treffen und besässen ebenso wenig eine Seele.

Keine Seele? Mag sein, aber besser keine Seele als eine so rabenschwarze wie viele Zweibeiner sie besitzen. Ich jedenfalls bin anderer Ansicht – Tiere haben eine Seele und Gefühle jenseits von Schmerzempfindungen. Sie können sie auch den Menschen mitteilen, wenn diese sich dafür aufgeschlossen zeigen.

Man möge mir verzeihen, wenn ich auf ein Erlebnis weit aus meiner Vergangenheit zurückgreife, das ich als Beispiel für das eben Angeführte heranziehe. Ich bitte es nicht als die Gefühlsduselei eines alten Mannes abzutun, der in verklärten Erinnerungen lebt. Wer solches vermutet, kann sich getrost das Weiterlesen ersparen.

Es ist ungefähr 40 Jahre her, als ich mich aus beruflichen Gründen häufiger in der Stadt Nürnberg aufhielt. Diese, auch damals schon reizvolle Stadt, war mir also von den Sehenswürdigkeiten bestens bekannt, so konnte ich ohne etwas zu versäumen in einem Hotel ausserhalb der Innenstadt übernachten, welches unmittelbar am Zoo lag. In meinen freien Stunden hatte ich also Gelegenheit Tiere zu betrachten, die bei uns in Feld und Wald nicht zu finden sind.

Regelmässig besuchte ich in diesem Zoo das Löwengehege, in dem sich ein mächtiger Mähnenträger befand, der aus gewohnter Faulheit oder Langeweile immer ziemlich dicht an der Besucherabsperrung lag.

Eines Tages stand ich allein vor dem Gehege. Mein alter Freund Simba lag wieder an seinem Platz, nur diesmal fixierte er mich ungewöhnlich aufmerksam. Auch ich suchte seine Augen und sah ihn unverwandt an. Nach kurzer Zeit öffnete sich sein gewaltiger Rachen in dem Furcht erregende Fangzähne sichtbar wurden. Ja, gähn du nur, dachte ich – doch im selben Augenblick fing der Löwe an zu sprechen:

„Warum kommst du hier her, um zu gaffen? Reicht es dir nicht, dass deine Artgenossen mich meiner Freiheit beraubt haben? Ach, könnte ich doch die Weite der Afrikanischen Savanne durchstreifen, mich unter Akazienbäumen beschatten lassen. Ich vermisse die Sonne und das Spiel mit den Artgenossen, den wilden Kampf mit den Hyänen. Selbstbestimmung, wenn der Hunger mich zum Jagen antreibt, nicht wenn ich zum Fressen in meinen Käfig muss. Schlafen, wenn ich will – und nicht wenn meine Wärter mich dazu einsperren. Meine eigene Welt entdecken, dem Stampfen von Elefanten und Büffeln lauschen, Gefahren erkennen und bestehen - das Leben bestehen, der Langenweile entfliehen – kurz einmal ich selbst sein. OOaaach!“ endete er mit schmerzlichen Brüllen, das mir das Herz schwer machte. Dann wandte er sich ab und trottete in seine Felsengrotte.

„ Du hast ja so Recht“, schrie ich förmlich hinter ihm her.

Inzwischen hatte sich ein Grüppchen Menschen unbemerkt neben mir versammelt.

Die lachten und sahen mich verwundert an.

„Ein spinnerter Kerl!“

„Darf man nicht ernst nehmen!“

„Der ist bloss besoffen.“

„Das hat man schon mal“, sagte gütlich eine ältere Dame, „ das kommt, wenn jemand alleine ist. Ich rede auch oft mir!“

Schlagartig wurde mir bewusst, dass ich es war, der die ganze Zeit mit dem Löwen geredet hatte. Ich drehte mich wortlos mit hochrotem Kopf um und verliess beschämt den Tiergarten.

Nur eines weiss ich gewiss: der verzweifelt traurige Blick dieser Kreatur hat mich genau die Worte aussprechen lassen, die das Innerste meines Löwen bewegten. Tiere haben eine Seele, und ich bin froh, dass ich dies erkannt habe.

Jahre später – meine Familie und ich waren zwischenzeitlich nach Schwabach gezogen – habe ich öfter noch den Zoo in Nürnberg besucht. Mein alter Freund Simba hatte sich inzwischen schon in die Ewigen Jagdgründe verabschiedet und ein neuer, prächtiger „König der Tiere“ hatte seinen Platz eingenommen.

Ich habe es jedoch stets vermieden, einen intensiven Blickkontakt aufzunehmen, um einen erneuten Seelen-Einblick zu vermeiden.

Schliesslich wollte ich nicht noch einmal als „Kaschperl“, wie man so schön in Franken sagt, dastehen….

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